Verzinstes Geldsystem: Wachstum oder Wuchertum?

Wachstum oder Wuchertum – wie funktioniert die Wirtschaft und was hat das Geldsystem damit zu tun? Die heilige Schrift verbieten ihn, alle Denker von Aristoteles bis Luther beschimpften ihn als „unnatürlich“ und „wucherisch“, aber jetzt, wo die Zentralbanken den Zins quasi abschaffen müssen, da rollen den Ökonomen die Tränen. Das Ende des Zinses ist die Notwendigkeit einer Zeit ohne neue, echte Profitmöglichkeiten. Sollten wir uns darüber freuen?

Gastbeitrag von Stefan Mekiffer

Verzinstes Geldsystem - Wachstum oder Wuchertum

Für ihre Entscheidung, den Leitzins auf null Prozent zu senken und ihre Einlagen mit einer Gebühr zu belegen, um damit die „Kreditvergabe zu stimulieren“ und den „wirtschaftlichen Aufschwung zu stärken“, erntet die Europäische Zentralbank (EZB) Kritik von allen Seiten. Der Tenor: Kleinsparer und Rentner, die im Alter von ihren Zinsen zehren wollten, werden nun enteignet, um die Finanzmärkte mit neuem Geld zu fluten.

Es überrascht, dass ausgerechnet Staat und Mittelschicht zu den Gläubigern gehören sollen, die von hohen Zinsen profitieren. Zinsen fließen doch von Schuldnern an diejenigen, bei denen sie verschuldet sind – seit wann also konzentriert sich das große Geld bei der Allgemeinheit? Hatten wir nicht gerade eine große Finanzkrise, weil Staaten und Haushalte überschuldet waren?

Aber während das Mittel kritisiert wird, bleibt das Ziel der Maßnahmen unhinterfragt: „den Aufschwung zu stärken“, sprich die Wirtschaft wieder zum Wachsen zu bewegen. Schließlich bringt Wachstum Arbeitsplätze – und wer würde die nicht wollen? So allgegenwärtig ist die Gleichsetzung von Wachstum mit Wohlstand, dass es blasphemisch scheint, sie in Frage zu stellen. Aber was bedeutet Wirtschaftswachstum genau? Ökonomen meinen damit nicht das Wachstum an allgemeinem Konsum, sondern nur an Gütern und Dienstleistungen, die für Geld erworben werden.

Was ist Wachstum?

Wenn Leute also aufhören zu radeln und stattdessen Auto fahren, wächst dadurch die Wirtschaft. Dasselbe gilt, wenn Sie zum Imbiss gehen, anstatt für sich zu kochen. Oder wenn Sie einen Wald fällen und Holz verkaufen: Wenn der Baum noch steht, ist er kein Gut; erst wenn ich ihn fälle und zum Käufer transportiere, macht er Geld, und die Wirtschaft wächst. Wenn ich ein Lied schreibe und ins Internet stelle, ist es keine Dienstleistung; erst wenn ich es urheberrechtlich schütze, verknappe und verkaufe, steigert mein Lied das Inlandsprodukt, zählt es als Bereicherung der ökonomischen Welt.

Wirtschaftswachstum sagt also wenig darüber aus, ob ich nun etwas Neues geschaffen habe oder etwas Bestehendes verkauft, ob ich nun Reichtum oder Armut produziert habe. Kaum erstaunlich, dass Studien immer wieder zeigen, dass reiche Länder nicht unbedingt glücklicher als arme sind. Dieser Kontroverse zum Trotz sind sich Ökonomen durch die Bank weg einig, dass die Wirtschaft wieder wachsen muss. Wieso?

Verzinstes Geldsystem: Wachstum oder Wuchertum?

Es gibt tatsächlich einen guten Grund dafür: Unser gegenwärtiges Geldsystem funktioniert nur in einer wachsenden Wirtschaft. Stagniert das Wachstum, stottert der Motor. Um das zu verstehen, lohnt es, sich ein paar Finanzgrundlagen vor Augen zu führen.

Die Währung unseres Geldsystems ist das Kreditgeld: Wir zahlen fast ausschließlich mit Bankguthaben. Dieses Guthaben entsteht, wenn jemand einen Kredit von einer Bank in Anspruch nimmt (siehe Geldschöpfung). Dann erhält der Kreditnehmer Guthaben und schreibt im Gegenzug einen Schuldschein aus, also ein Versprechen, das Geld in Zukunft zurückzuzahlen. Anders gesagt entsteht Geld dadurch, dass ein verzögerter Handel stattfindet: Dafür, dass ich heute ein Gut, das ich mit dem Kredit bezahle, erhalte, stimme ich zu, morgen etwas zu geben – ein Gut, das ich verkaufe, um Schulden zu bezahlen.

Genau wie bei einem Handel wird Ihnen die Bank den Kredit nur geben, wenn sie die berechtigte Erwartung hegen kann, dass er zurückgezahlt wird, indem Sie in Zukunft etwas im entsprechenden Wert produzieren und verkaufen.

Nun kommt der Zins hinzu. Wenn die Schuld verzinst ist, bedeutet das, dass ich in Zukunft mehr Geld zurückzahlen muss, als ich bekommen habe. Angenommen, Sie drucken exakt zehn Scheine, leihen sie mir, aber wollen noch einen elften zurück. Ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, Sie drucken noch einen und geben ihn mir.

Dasselbe gilt für die Wirtschaft als Ganzes: Wenn Geld nur als verzinster Kredit entsteht, gibt es stets mehr Schulden als Guthaben, und es müssen kollektiv immer größere Kredite aufgenommen werden, damit die alten beglichen werden können. In einer wachsenden Wirtschaft ist das auch kein Problem, weil stets neue Kredite fließen, um neue Geschäftsmöglichkeiten auszuloten, wodurch die alten Schulden in ihrer Summe bezahlt werden können.

Aber heute werden rentable Geschäftsmöglichkeiten, die man mit Krediten versorgen möchte, zusehends knapp. Banken zögern, sie bezweifeln dass die neuen Kredite beglichen werden. Ohne neue Kredite gibt es aber kein Geld, um die alten Kredite zu tilgen, und Banken verleihen nur noch zögerlicher, um auch bei Zahlungsausfällen solvent zu bleiben. Als Resultat steigt die Verschuldung schneller als das Einkommen, die Tilgung setzt aus, und die Insolvenzen und Entlassungen folgen, wie wir seit Jahren beobachten können – das unvermeidbare Resultat eines Geldsystems, das auf das Wachstum angewiesen ist, welches sich zunehmend erschöpft.

Zentralbanken hatten immer eine gute Lösung für dieses Problem: Wenn das Wachstum abebbte, kauften sie viele der risikoarmen Staatsanleihen und senkten so deren Zins. Investoren, die keine Kredite an die Wirtschaft vergaben und ihr Geld lieber in einer zu acht Prozent verzinsten Anleihe parkten, änderten plötzlich ihre Meinung wenn die Rendite nur noch fünf oder zwei Prozent betrug. Ein so niedriger Leitzins flutete daher Unternehmen und Konsumenten mit Krediten und kurbelte die Wirtschaft an.

Kreditblase: Das Ende des Wachstums

Heute jedoch scheint dieses Instrument nicht mehr zu funktionieren. Obwohl der Leitzins null Prozent beträgt und die EZB ihr Kreditvolumen jährlich um zehn Prozent ausweitet, dümpelt das Wachstum an Krediten, die die Banken an Haushalte und Unternehmen weitergeben, bei kaum über null herum. Die EZB gibt den Geschäftsbanken also zinslose Kredite, aber die fromme Hoffnung, dass diese das Geld an die Realwirtschaft weitergeben, erfüllt sich nicht.

Die soeben angelaufene Ausweitung des Anleihenankaufs der EZB von 60 auf 80 Milliarden Euro pro Monat wird daher wahrscheinlich denselben Effekt haben wie die letzten derartigen Maßnahmen: Das neue Geld wird in Finanzmärkte und Immobilien fließen und dort Mietsteigerungen und Blasen bewirken, aber kaum an die Allgemeinheit durchsickern. Dabei kann man nicht einmal den Banken die Schuld für die zögerliche Kreditvergabe geben. Warum sollten sie ihre Kredite ausweiten wenn Unternehmen und Haushalte bereits überschuldet und die Profitaussichten weiter trübe sind? Die sprichwörtliche Gier der Bankiers mag ein willkommener Sündenbock sein, aber dieses Problem geht tiefer.

Denn der Grund dafür, dass es sich nicht lohnt, Kredite auszuweiten, liegt an den mangelnden Geschäftsmöglichkeiten, sprich: dem Ende des Wachstums. Ohne neue Profitmöglichkeiten keine neuen Kredite, und ohne Geld kommen Bankrott, Arbeitslosigkeit, Polarisierung.

Es gibt daher zwei Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen. Entweder können wir es verschieben: Das ist der Plan der EZB, die auf „Strukturreformen“ und lockere Kredite hofft, um den Aufschwung anzustoßen. Wir können möglicherweise das Wachstum um ein paar Jahre verlängern, durch das Öffnen neuer und das Deregulieren bestehender Märkte, durch Expansionen und Landgrabbing, Fracking, Tiefseeölbohrungen, Regenwaldrodung und so weiter, um weiter Profit- und Investitionsmöglichkeiten zu schaffen.

Wirtschaft ohne Wuchertum

Da allerdings eine wachsende Wirtschaft auch wachsende Ressourcen verbraucht, geht dies nur gegen steigende Kosten für zukünftige Generationen. Früher oder später – hoffentlich früher – müssen wir einen Übergang finden in eine ausgewachsene Wirtschaft.

Klingt das wie eine Drohung? Heute ist es das: Schwindendes Wachstum bedeutet Rezession, und das bedeutet Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. Dabei müsste das Ende des Wachstums nicht zwangsläufig ein Problem sein. Jeder lebende Organismus hört eines Tages auf, größer zu werden, ohne deshalb gleich in Depressionen zu verfallen.

Ebenso beinhalten manche Probleme versteckte Wohltaten: Arbeitslosigkeit könnte man in mehr Freizeit für alle übersetzen. Geringerer Konsum könnte langlebigere Produkte bedeuten, mehr Kultivierung verlorener Fertigkeiten, mehr persönlichen Austausch. Eine stagnierende, schrumpfende Wirtschaft könnte bedeuten, den kolonialisierenden Einfluss des Geldes auf alle Lebensbereiche zurückzudrängen. Dasselbe gilt für die Krise: Wenn die Überschuldung von Staaten und Haushalten das Problem ist, ist dann ein sanftes Abschmelzen durch einen negativen Zins nicht eine elegante Lösung?

Zentralbanken könnten in diesem Übergang die Schlüsselrolle spielen. Wie wäre es zum Beispiel, die expansive Geldpolitik mit Schuldenerlässen zu kombinieren? Banken erhalten einen Rettungsschirm nach dem anderen – wie wäre es mit Rettungsschirmen für die Bevölkerung? Die Zentralbank könnte Studenten-, Immobilienkredite oder sogar Konsumentenschulden aufkaufen und so deren Zinssätze ebenfalls auf null senken. Das würde Millionen aus dem Hamsterrad des Zinsdienstes befreien, Ungleichheit verringern und Kaufkraft wiederherstellen, ohne irgendwen enteignen zu müssen. Oder warum nicht gleich ein Grundeinkommen einführen, das allen Bürgern eine wirtschaftliche Existenz garantiert, finanziert durch die Strafsteuer auf Geldhortung, die der negative Zins impliziert?

Was würde wirklich passieren, wenn Zentralbanken etwas beherzter die Null überquerten, wie es die Schweiz bereits vorsichtig getan hat? Wenn Investoren heute zögern, ihr Geld zu verleihen und lieber Anleihen für eine Rendite von null kaufen, warum vermindern wir diese nicht auf minus zwei oder sogar minus fünf Prozent? Wie eine Gebühr auf liquide Bankguthaben würde es das Geld dazu bringen, auch in der Abwesenheit von Wachstum zu zirkulieren. Sinnvolle und tragfähige, aber unprofitable Geschäftsmodelle zu finanzieren, würde plötzlich wirtschaftlich sein – welchen sozialen und ökologischen Wert könnten wir so schaffen? Können wir die ganzen Gelder nicht in Freizeit und Wohlergehen stecken statt in die Mehrung bloßen Konsums?

Wir sollten uns keine Illusionen machen: Wir befinden uns am Ende einer Ära. Keiner kann ernsthaft glauben dass wir wieder einfach aus den Schulden herauswachsen. Der Aufschwung, der alles wieder normal machen wird, wird nicht kommen, egal wie viel Geld wir darauf verwetten. Aber es gibt Alternativen. Es ist Zeit für den Übergang in eine Wirtschaft ohne Wucher.

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Hinweis:

Stefan Mekiffer ist Ökonom und Philosoph. Der vorliegende Beitrag wurde der Inflationsschutzbrief-Redaktion über unseren Service “Gastbeitrag erstellen” zur Veröffentlichung angeboten. Die Meinung des Autors muss nicht zwingend die Meinung der Redaktion widerspiegeln.