Raimund Brichta: Geldschöpfung, Wachstumszwang und Vollgeld (Teil 2)

Der von mir sehr geschätzte, frühere Leiter der NTV-Wirtschaftsredaktion, Raimund Brichta, hat zu meinem Beitrag über die Diskussion zwischen ihm und Dr. Timm Gudehus Stellung bezogen. In diesem Beitrag will ich ausführlich darauf eingehen und darlegen, warum Vollgeld, in Verbindung mit einem Entzug des Geldschöpfungsprivilegs zulasten der privaten Banken, den Wachstumszwang – entgegen der Einschätzung von Raimund Brichta – trotzdem abmildern dürfte. Dieser Beitrag stellt indirekt aber auch eine Aufforderung an die Vollgeld-Befürworter dar, zu den in der Diskussion stehenden Punkten selbst auch Stellung zu nehmen.

Raimund Brichta / Bernhard-Albrecht Roth diskutieren Banken-Geldschöpfung, Wachstumszwang und Vollgeld

30.07.2017: In seinem Kommentar zu meinem Beitrag legt Raimund Brichta dankenswerterweise sehr ausführlich dar, weshalb er davon ausgeht, dass Vollgeld an den Problemen des herrschenden Geldsystems wenig ändern würde. Sein wichtigstes Argument ist dabei der Wachstumszwang (also der Zwang, die Geldmenge durch Neuverschuldung stetig erhöhen zu müssen), der – wie im bestehenden Schuldgeldsystem – auch in einem Vollgeldsystem bestehen bliebe, damit es nicht zum Kollaps kommt. Ausgelöst werde dieser Wachstumszwang nach Raimund Brichta durch Zins und Zinseszins, die Geldhortung und insbesondere das grundsätzliche Streben nach Geldvermögensbildung. Über die Ursachen des Wachstumszwangs herrscht zwischen ihm und mir sehr weitgehende Übereinstimmung. Die strittige Frage ist aber, ob auch ein Vollgeldsystem einem vergleichbaren Wachstumszwang wie das herrschende Schuldgeldsystem unterliegt. Hätte Raimund Brichta mit seiner Annahme recht, woran ich ernsthaft zweifle, wäre die Diskussion über Vollgeld als Alternative aus meiner Sicht mit einem Schlag obsolet.

Schuldgeldsystem und Vollgeldsystem

In einem Vollgeldsystem soll den privaten Banken das im bestehenden Schuldgeldsystem existierende Privileg entzogen werden, Giralgeld durch Kreditvergabe zu erzeugen. Giralgeld ist ein Geldsurrogat, also eine Forderung auf gesetzliche Zahlungsmittel gegenüber den privaten Banken. Mindestens 90 Prozent der gesammten Geldmenge wird durch Giralgeld abgedeckt. Gesetzliche Zahlungsmittel (Bargeld und elektronisches Zentralbankgeld) kann hingegen nur eine Zentralbank (für die Eurozone die EZB) in Umlauf bringen. In einem Vollgeldsystem soll es nur noch gesetzliche Zahlungsmittel geben. Aus dem Blickwinkel der Befürworter könnte ein Vollgeldsystem ein gerechteres Geldsystem sein, wenn es sich durch dessen Einführung verhindern liese, dass sich die Vermögen mit der Zeit bei einer kleinen Minderheit zulasten der Mehrheit ansammeln, so wie das im herrschenden Schuldgeldsystem der Fall ist.

Bernhard-Albrecht Roth: Abweichende Sicht zu Raimund Brichta

Nach meiner Ansicht ist die Einschätzung von Raimund Brichta nicht zutreffend, wenn er davon ausgeht, dass der Wachstumszwang (zur Erhöhung der Geldmenge) auch in einem Vollgeldsystem fortbestehen würde, weil das grundsätzliche Streben nach Geldvermögensbildung, das er als den größten Wachstumstreiber der Geldmenge bezeichnet, anhält. Er verkennt dabei jedoch, dass dieses „Streben“ nur deshalb anhalten kann, weil sich in den letzten Jahrzehnten eine Finanzwirtschaft entwickelt hat, die heute um ein Vielfaches größer ist als die Realwirtschaft. Könnte diese Finanzwirtschaft ihre Geschäftsmodelle nicht mehr fortsetzen, würde zwar das „Streben“ zur Anhäufung von Forderungen zur Geldvermögensbildung anhalten, nicht aber deren Verwirklichung.

Raimund Brichta schrieb: „Geht man einmal von diesem Wachstumszwang aus, MUSS die genannte Summe also auch dann wachsen, um das System am Laufen zu halten, wenn den Geschäftsbanken das Geldschöpfungsprivileg entzogen worden ist. Einverstanden?“

Im bestehenden Schuldgeldsystem ist das natürlich richtig, aber m. E. nicht in einem Vollgeldsystem, dazu gleich mehr!

Raimund Brichta schrieb weiter: „Zumindest ist dies rein logisch ableitbar – es sei denn, man würde unterstellen, dass durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs auch der Wachstumszwang im Gesamtsystem entfiele. Dies ist nach meiner Erkenntnis jedoch nicht der Fall.“

Ich würde es nicht so beschreiben, dass in einem Vollgeldsystem durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs auch der Wachstumszwang entfällt! Der Wachstumszwang dürfte aber sukzessive abnehmen, und zwar in dem Maß, in welchem bestehende Schulden durch Vollgeld getilgt werden können.

Gründe für abnehmenden Wachstumszwang im Vollgeldsystem

1. Vollgeld soll schuldenfrei geschöpft werden und ist deshalb ein sog. Aktivgeld. Wird es zur Schuldentilgung eingesetzt, was bei einem hohen Verschuldungsgrad sehr wahrscheinlich ist, geht die Verschuldung insgesamt zurück und würde somit auch den Druck senken, die Geldmenge stetig erhöhen zu müssen. Das ist auch der Ansatz, den Prof. Dr. Thomas Mayer, der Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research-Institute, mit der Befürwortung von Helikoptergeld verfolgt.

Und jetzt zum wichtigsten Argument von Raimund Brichta: „Der wesentliche Wachstumstreiber, nämlich die “Geldvermögensbildung generell” (Punkt b meiner von Ihnen zitierten Aufzählung) auch in einem Vollgeldsystem unverändert bestehen bliebe.“ Das sehe ich anders, wie ich nachfolgend erläutere.

2. Die Möglichkeiten der Geldvermögensbildung werden im bestehenden System maßgeblich über eine viel zu große Finanzwirtschaft realisiert, deren Geschäftsmodelle aus Geld immer mehr Geld erwirtschaften wollen, was aber nur geht, wenn die Geldmenge durch Neuverschuldung steigt, nachdem es dort keine realwirtschaftliche Wertschöpfung gibt.

Wird das Geldschöpfungsprivileg der Banken im Zuge einer Vollgeldreform jedoch abgeschafft, kann die Geldmenge nicht mehr durch Neuverschuldung steigen. Insofern können die in der Finanzwirtschaft betriebenen Geschäftsmodelle ohne neues Schuldgeld auch nicht mehr fortgesetzt werden, wodurch die Möglichkeit der Geldvermögensbildung in der Finanzwirtschaft sowie der Wachstumszwang (Zwang zum Geldmengen-Wachstum) abnehmen würde.

Es ist wichtig zu unterscheiden, dass ein „Streben nach Geldvermögensbildung“ so groß sein kann wie es will, die Verwirklichung dieses „Strebens“ aber erfolglos bleiben muss, wenn die dazu erforderlichen Rahmenbedingungen (Giralgeld schöpfen zu können) fehlen. Schließlich hat dieses „Streben“ in der Vergangenheit erst zu den heutigen Rahmenbedingungen geführt, was durch Einschränkung der Rahmenbedingungen aber auch wieder rückgängig zu machen ist. Wird neues Geld mit der Umstellung auf ein Vollgeldsystem also nur noch als schuldenfreies Aktivgeld (Vollgeld) geschöpft, nimmt der Wachstumszwang ab, sobald die bestehenden Schulden aus der Zeit des Schuldgeldsystems sukzessive getilgt werden.

Was passiert bei der Einführung von Vollgeld

Mit der Einführung von Vollgeld soll bestehendes Schuldgeld in Vollgeld umgewandelt werden. Damit würde alles Giralgeld zu gesetzlichem Zahlungsmittel. Gleichzeitig soll den Banken das Privileg, Giralgeld durch Kreditvergabe zu schöpfen, entzogen werden. Neues Geld wird ab diesem Zeitpunkt nur noch (oder zumindest größtenteils) als schuldenfreies Vollgeld durch die neue oder alte „Währungsbehörde“ (Monetative als vierte Säule der Gewaltenteilung oder durch eine reformierte Zentralbank) in Umlauf gebracht. Die schuldenbehaftete Geldmenge ist damit quasi eingefroren bzw. gedeckelt.

Raimund Brichta: Anhäufung von Forderungen ohne Geldsurrogate

Raimund Bricht schrieb: „Ihre anschließende Argumentation, die sich auf die Frage konzentriert, inwieweit Forderungen auf Zahlungsmittel zum Geldsurrogat werden können und dürfen, eignet sich somit nicht, um den von mir oben beschriebenen Erkenntnissen zu widersprechen.“

Dem kann ich nicht zustimmen, denn Raimund Brichta beschrieb seine Erkenntnisse weiter oben in seinem Kommentar so:

„Der Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel wird sich nämlich auf jeden Fall weiter erhöhen, sofern die Hauptursache des Wachstumsdrucks bestehen bleibt (wovon ich ausgehe, aber mehr dazu später). Und wenn der Bestand an Forderungen stetig wüchse, der Bestand an Zahlungsmitteln aber nicht, würde sich eine immer größer werdende Lücke zwischen beiden Beständen auftun, die das System zum Zusammenbruch brächte. Diesen Zusammenbruch könnte sich eine solche Institution aber nicht leisten. Deshalb würde sie früher oder später dem Druck nachgeben müssen und den Zahlungsmittelbestand ebenfalls erhöhen. Genau deshalb habe ich in der Diskussion mit Herrn Gudehus geschrieben, dass ein Wachstum beider Komponenten (Zahlungsmittel und Forderungen) die wahrscheinlichste Variante in einem solchen System wäre.“

Wer wie Raimund Brichta von einem Anstieg der Forderungen auf Zahlungsmittel in einem Vollgeldsystem ausgeht, wodurch irgendwann auch ein Zwang entstehen würde, die Zahlungsmittel selbst zu erhöhen, sollte sich vorher mit der Frage auseinandersetzen, ob und unter welchen Voraussetzungen Forderungen zur Geldvermögensbildung ohne Geldschöpfungsprivileg der privaten Banken in einem Vollgeldsystem überhaupt angehäuft werden wollen oder können.

Nur fungible Forderungen wollen gehortet werden

Die wesentliche Voraussetzung dafür ist m. E., dass Forderungen als Zahlungsmittel akzeptiert werden (Geldsurrogat), weil das Streben diese Forderungen anzuhäufen, maßgeblich von der Fungibilität, also der Tauschbarkeit in Geld abhängt (wie ich ausführlich begründet hatte und nachfolgend nochmals unter Zigarettenwährung darlege). Denn ohne Prüfung dieser Frage wird die Annahme, „der Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel wird sich nämlich auf jeden Fall weiter erhöhen“ zu einer reinen Vermutung, die durch nichts belegt ist.

Raimund Bricht schrieb auch: „Außerdem bezweifle ich, dass sich ein Geldsurrogat nur dann etablieren kann, wenn es explizit mit dem Geldschöpfungsprivileg ausgestattet wird. Die Zigarettenwährung in der Vergangenheit oder diverse Kryptowährungen in der Gegenwart mögen dafür als Beispiele dienen.“

Ich hatte nirgendwo ausgeführt, dass sich ein Geldsurrogat nur dann etablieren kann, wenn es mit dem Geldschöpfungsprivileg ausgestattet ist. Die Zigarettenwährung ist deshalb auch kein geeignetes Beispiel, um meine Argumentation über die erforderliche Fungibilität von Forderungen (als Geldsurrogat) zu erschüttern, denn dabei handelt es sich um eine Sachwährung mit einem inneren und für jedermann einschätzbaren Tauschwert, während Forderungen, deren Tauschwert nicht so eindeutig ist, nur dann als Zahlungsmittel akzeptiert werden, wenn sie jederzeit in Geld getauscht werden können, wozu aber Institutionen mit Geldschöpfungsprivileg gebraucht werden (Forderungsabtretung, Forderungsverkauf mit Regress = Factoring, Forderungsverkauf ohne Regress = Vorfaitierung, etc…). Gäbe es das Geldschöpfungsprivileg der Banken nicht, wären viele Forderungen illiquide, wodurch das große Interesse, diese zur Geldvermögensbildung anzuhäufen, entfiele.

Das gilt auch für die bestehenden Krypto-Währungen, die als Gegenargument für meine Begründung ungeeignet sind, denn diese werden nur deshalb als Zahlungsmittel akzeptiert, weil sie jederzeit in andere Währungen konvertierbar, also fungibel sind, die aber zu über 90 Prozent aus Giralgeld bestehen. Womit mehr als deutlich wird, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Akzeptanz als Zahlungsmittel und dem Geldschöpfungsprivileg besteht.

Raimund Brichta weiter: „Ob jemand eine Forderung auf Zahlungsmittel anstatt des Zahlungsmittels selbst als Bezahlung akzeptiert, hängt nicht davon ab, ob einer der beiden Vertragspartner ein Geldschöpfungsprivileg hat. Zumal die von Ihnen erwähnte Fungibilität auch durch einen simplen Börsenhandel ohne Geldschöpfungsprivileg gewährleistet werden kann“.

Natürlich hängt die Akzeptanz einer Forderung nicht davon ab, ob einer der Vertragspartner über ein Geldschöpfungsprivileg verfügt, sie hängt aber sehr wohl davon ab, ob der Gläubiger die Forderung jederzeit und ohne unkalkulierbaren Volatilitätsabschlag liquidieren kann, wie gerade das Beispiel der Krypto-Währungen sehr deutlich zeigt. In dieser Hinsicht können die Börsen zwar ein Äquivalent zur privaten Geldschöpfung für die Fungibilität von Forderungen sein, denn sie bestimmen einen Wert nicht nur für materielle sondern auch für immaterielle Vermögenswerte und ermöglichen dadurch deren Tausch in Zahlungsmittel. Jedoch ist nicht jede Forderung so „simpel“ börsenfähig, wie die Darstellung von Raimund Brichta suggeriert, sondern erfordert größere Volumen, die Einhaltung von klar definierten Regeln sowie eine nicht zu unterschätzende Vorlaufzeit.

Der Börsenhandel ist auch sehr eng mit der Geldschöpfung der privaten Banken verbunden, denn ohne den Finanz- und Spekulationskredit wäre das Volumen aller an den Börsen gehandelten Assets viel geringer. Das Geldschöpfungsprivileg der privaten Banken ist somit quasi die Voraussetzung für den heute florierenden Börsenhandel, weshalb die Begründung von Raimund Brichta „die von Ihnen erwähnte Fungibilität auch durch einen simplen Börsenhandel ohne Geldschöpfungsprivileg gewährleistet werden kann“, genau die gegeteilige Beweiskraft besitzt.

Beispiel von Raimund Brichta beweist Gegenteil

Das folgende Beispiel von Raimund Brichta zeigt sehr deutlich, warum die Möglichkeit, Forderungen zur Geldvermögensbildung anzuhäufen, sehr eng mit dem Geldschöpfungsprivileg der privaten Banken verbunden ist:

„Zwar können Forderungen auf Zahlungsmittel natürlich nicht “beliebig” angehäuft werden, wenn die zugrundeliegende Menge an Zahlungsmitteln nicht mitwächst. Wie groß der Spielraum sein kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Beispiel der Interbankenforderungen zeigt aber, dass er sehr groß werden kann:

Geschäftsbanken akzeptieren als Zahlungsmittel untereinander nur Zentralbankgeld; Geschäftsbanken-Giralgeld akzeptieren sie nicht. Bis zum Beginn der Finanzkrise schrumpfte das Verhältnis der Zentralbankguthaben der Geschäftsbanken, also des tatsächlich vorhandenen Zentralbankgeldes, im Vergleich zu den Interbankenforderungen aber zu einem verschwindend kleinen Bruchteil zusammen.

Ich will damit nicht sagen, dass dieses Beispiel eins zu eins übertragbar ist auf das Verhältnis eines möglichen Vollgeldbestands zum Bestand an Forderungen auf dieses Vollgeld, aber es zeigt doch zumindest in die mögliche Richtung. Und sollte der Abstand zu groß werden, dürfte die Währungsbehörde gezwungen werden, mit der Produktion von Zahlungsmitteln nachzulegen, damit das System nicht kollabiert.

Letzteres ist übrigens im Interbankenbeispiel seit der Finanzkrise zu beobachten: Die Notenbanken haben ihrerseits Zahlungsmittel im Überschwang “geschöpft”, um einen Zusammenbruch des Systems zu verhindern.“

Der Interbankenmarkt ist infolge der Finanzkrise nur deshalb zusammengebrochen, weil viele die Geschäftsbanken zuviel Giralgeld geschöpft hatten und durch die Buchverluste der gebündelten Immobilienkredite – statt Zentralbankgeld an andere Banken verleihen zu können – selbst Zentralbankgeld brauchten. Die Zentralbanken mussten also gesetzliche Zahlungsmittel bereitstellen, um Bankenpleiten und den Kollaps des Schuldgeldsystems zu verhindern. Das von den Geschäftsbanken vorher zuviel geschöpfte Giralgeld durch Subprime-Kredite hätte es jedoch ohne Geldschöpfungsprivileg niemals gegeben, weil diese minderwertigen Forderungen nur durch ihre Verbriefung und Ausstattung mit guten Ratings fungibel wurden und damit weiterverkauft werden konnten. Ergo wäre es ohne Banken-Geldschöpfung und anschließende Verbriefung auch nie zu einer notwendigen Ausweitung der gesetzlichen Zahlungsmittel durch die Zentralbanken gekommen.

Die folgende Beurteilung von Raimund Brichta halte ich deshalb für unzutreffend: „Der Entzug des Geldschöpfungsprivilegs “begrenzt” erst einmal gar nichts. Er konzentriert das Privileg lediglich auf eine Institution, wie immer man diese bezeichnen mag (Notenbank, Monetative etc.). Es kommt also darauf an, wie diese Institution damit umgeht.“

Auch Raimund Brichta wird vermutlich die offensichtliche Kausalität zwischen dem Wachstum der Giralgeldmenge seit dem Ende von Bretton-Woods (Anfang der 1970er Jahre) und der gleichzeitigen Ausweitung der Finanzwirtschaft in diesem Zeitraum kaum bestreiten wollen.

Die zunehmende Anhäufung von Forderungen zur Geldvermögensbildung hängt – wie von mir dargelegt – also ganz erheblich davon ab, ob die Forderungen fungibel sind. Ohne Geldschöpfungsprivileg oder ähnliche Rahmenbedingungen wird das nicht möglich sein und deshalb auch das „Streben“, solche Forderungen zur Geldvermögensbildung anzuhäufen, begrenzen.

Die Einschätzung von Raimund Brichta, „der Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel wird sich nämlich auf jeden Fall weiter erhöhen“, teile ich für ein Vollgeldsystem deshalb nicht.

Vollgeldsystem erzwingt keinen Antieg der Zahlungsmittel

Wenn die Anhäufung von Forderungen zur Geldvermögensbildung in einem Vollgeldsystem – aus den zuvor genannten Gründen – deshalb nur gering ansteigt, entsteht daraus auch kein Zwang, die Menge an Zahlungsmitteln stetig erhöhen zu müssen. Aus diesem Grund kommt es in einem Vollgeldsystem nach meiner Einschätzung auch nicht zu der von Raimund Brichta nachfolgend geschilderten Situation, dass die „Währungsbehörde“ den Bestand an Zahlungsmitteln ebenfalls ständig erhöhen müsste, sofern sie das System nicht an die Wand fahren will.

Raimund Brichta schrieb dazu: „Der Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel wird sich nämlich auf jeden Fall weiter erhöhen, sofern die Hauptursache des Wachstumsdrucks bestehen bleibt (wovon ich ausgehe, aber mehr dazu später). Und wenn der Bestand an Forderungen stetig wüchse, der Bestand an Zahlungsmitteln aber nicht, würde sich eine immer größer werdende Lücke zwischen beiden Beständen auftun, die das System zum Zusammenbruch brächte. Diesen Zusammenbruch könnte sich eine solche Institution aber nicht leisten. Deshalb würde sie früher oder später dem Druck nachgeben müssen und den Zahlungsmittelbestand ebenfalls erhöhen.“

Es mag zwar mit der Einführung des Vollgeldsystems zu einem temporär erhöhten Bedarf an Vollgeld kommen, damit genug Liquidität zur Verfügung steht, um einerseits das System stabil zu halten und andererseits mit der Tilgung der bestehenden Altschulden aus der Zeit des Schuldgeldsystems beginnen zu können. Sobald aber die Höhe der Altschulden durch die einsetzenden Tilgungen sinkt, kann die (neue oder reformierte) Währungsbehörde (Monetative oder Zentralbank) die nur temporäre Erhöhung der Vollgeldmenge wieder einschränken.

Ein notwendiges Wachstum beider Komponenten (Zahlungsmittel und Forderungen), die Raimund Brichta für die wahrscheinlichste Variante in einem Vollgeldsystem hält, kann ich deshalb bei Abschaffung des Geldschöpfungsprivilegs, im Gegensatz zum bestehenden Schuldgeldsystem, aus all den angeführten Gründen nicht erkennen.

Vollgeldsystem und Geldhortung

Nach meiner Einschätzung würde auch die Geldhortung in einem Vollgeldsystem nicht zu- sondern abnehmen. Denn ohne das existierende Geldschöpfungsprivileg können die Inhaber und Verwalter von Vermögen nicht mehr so einfach Geld horten und gleichzeitig Kredite in Anspruch nehmen, um damit – im Vergleich zu einem direkten Einsatz von Zahlungsmitteln – ihre Profite im Finanzsystem zu erhöhen. Fällt das Privileg der privaten Geldschöpfung weg, kann zwar immer noch ein Vollgeldkredit in Anspruch genommen werden, um in die Realwirtschaft zu investieren, aber im Gegensatz zu heute würde die Möglichkeit der Geldvermögensbildung in der Finanzwirtschaft entfallen, die durch die Nutzung von Krediten und Finanzinstrumenten auch die Geldhortung erhöhen, wie das Beispiel des bekannten Investors George Soros und seine Wetten mit Derivaten in Milliardenhöhe nahelegt. Denn jedes mit einem Hebel ausgestattete Finanzinstrument ist zwangsläufig eine Spekulation auf Kredit, die deshalb einen geringeren Kapitaleinsatz erfordert (und damit zu Geldhortung führt), als wenn direkt z. B. in Aktien investiert worden wäre.

Vollgeld – drei problematische Szenarien

Der sich ggfs. aufdrängenden Annahme, ich sei wohl ein Vollgeld-Befürworter, kann ich entgegnen, dass ich die Umstellung von einem Schuldgeldsystem auf ein Vollgeldsystem – neben den vielen offenen Fragen – auch aus den folgenden Gründen als nicht unkritisch erachte.

1. Die Zinsansprüche der Altschulden aus dem Schuldgeldsystem bestehen fort, weshalb es mit der Umstellung auf ein Vollgeldsystem, bei gleichzeitger Abschaffung des Geldschöpfungspriviles der Geschäftsbanken, zu einer Deflation kommen könnte, weil es möglicherweise nicht gelingt, genug Vollgeld in angemessener Zeit in Umlauf zu bringen.

2. Bisher kam es nicht zu einer höheren Inflation der Verbraucherpreise, weil das viele Schuldgeld größtenteils zur Geldvermögensbildung in der Finanzwirtschaft zirkulierte. Fällt diese Möglichkeit weg, weil im Zuge der Vollgeldreform kein neues Schuldgeld mehr geschöpft werden kann und deshalb die Möglichkeiten der Geldvermögensbildung in der Finanzwirtschaft wegfallen, wird viel Geld in die Realwirtschaft strömen und die Preise steigen lassen. Es wären also Maßnahmen erfoderlich, um dieser Entwicklung (ggfs. mit deutlich steigenden Arbeitseinkommen) entgegen zu wirken. Eine stichtagsbezogene Umstellung von Schuldgeld auf Vollgeld würde aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zu großen Verwerfungen führen.

3. Wie bereits in meinem Erstbeitrag zur Diskussion zwischen Raimund Brichta und Timm Gudehus dargelegt, ist der Einfluss der Finanzwirtschaft (Wall-Street, City of London …) mittlerweile so groß, dass die großen Finanzunternehmen im Zuge einer Vollgeldreform eigene privatrechtliche Zahlungsmittel in Umlauf bringen könnten, insbesondere um das eigene Streben nach Geldvermögensbildung zu befriedigen. Eine solche Entwicklung ist auch ohne Vollgeldreform im Zeitalter von Krypto-Währungen als wahrscheinlich anzusehen, eine Auffassung, die auch Raimund Brichta in seinem Kommentar zu meinem Erstbeitrag teilt. Aber selbst wenn das so wäre, sollte überlegt werden, ob es möglicherweise sogar von Vorteil wäre, wenn privatrechtliche und staatliche Währungen, so wie in einer natürlichen Ordnung, ein Gleichgewicht der Kräfte bilden, das heute, bei einer Geldmenge die zu über 90 % aus privatem Schuldgeld besteht, jedenfalls nicht mehr existiert.

Raimund Brichta: Kritik an der ihm unterstellten These

Die These, die ich Raimund Brichta in meinem Erstbeitrag unterstellte, lautete: “Werde der Bestand an Zahlungsmitteln durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs begrenzt, erhöhe sich zwangsläufig der Bestand an anderen Forderungen auf Zahlungsmittel“.

Ich zitiere die Ausführungen von Raimund Brichta dazu wörtlich, um neue Mißverständnisse zu vermeiden:

„Auch hier haben Sie meine Ausführungen nicht korrekt wiedergegeben. Mein Punkt war vielmehr die Erkenntnis, dass die Summe aus “Zahlungsmitteln” und “Forderungen auf Zahlungsmittel” (inklusive ihrer Schnittmenge) in unserem System einem Wachstumszwang unterliegt, sofern das System reibungslos funktionieren soll.

Geht man einmal von diesem Wachstumszwang aus, MUSS die genannte Summe also auch dann wachsen, um das System am Laufen zu halten, wenn den Geschäftsbanken das Geldschöpfungsprivileg entzogen worden ist. Zumindest ist dies rein logisch ableitbar – es sei denn, man würde unterstellen, dass durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs auch der Wachstumszwang im Gesamtsystem entfiele. Dies ist nach meiner Erkenntnis jedoch nicht der Fall. Für den Moment halten wir fest: WENN der Wachstumszwang bestehen bleibt, MUSS die o.g. Summe wachsen.

Dies war mein Ausgangspunkt in der Diskussion mit Herrn Gudehus und nicht etwa ein automatischer Wirkungszusammenhang nach dem Motto: Wenn der Bestand an Zahlungsmitteln durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs begrenzt wird, erhöht sich zwangsläufig der Bestand an anderen Forderungen auf Zahlungsmittel.

Dieser Satz enthält ohnehin noch einen weiteren unterstellten Wirkungszusammenhang, den ich ebenfalls niemals so formulieren würde. Den Zusammenhang nämlich, dass durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs der Bestand an Zahlungsmitteln “begrenzt” würde. Der Entzug des Geldschöpfungsprivilegs “begrenzt” erst einmal gar nichts. Er konzentriert das Privileg lediglich auf eine Institution, wie immer man diese bezeichnen mag (Notenbank, Monetative etc.). Es kommt also darauf an, wie diese Institution damit umgeht.“

Raimund Brichta hat insofern recht, das meine verkürzte These seine Ausführungen nicht vollständig wiedergibt. Doch was besagt die von mir verwendete These wirklich? Sie drückt lediglich aus, dass es zu einer Verlagerung innerhalb seiner Gleichung

Geldvermögen = Bestand an Zahlungsmitteln + Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel

kommt, wenn das Wachstum eines Parameters erschwert wird. Warum die Möglichkeit der Verlagerung von einem Parameter auf einen anderen aussagen soll, dass die Größe aller Parameter (Menge an Zahlungsmitteln und Forderungen) insgesamt begrenzt wäre, so wie es Raimund Brichta interpretiert, erschließt sich mir bisher nicht. Zumal ich in dem Erstbeitrag doch mehr als deutlich gemacht habe, dass die Geldmenge im bestehenden System stetig ansteigen muss und darüber zwischen uns beiden Einigkeit besteht.

Insofern enthält meine verkürzte These auch nicht einen weiteren Wirkungszusammenhang, dergestalt, „dass durch den Entzug des Geldschöpfungsprivilegs der Bestand an Zahlungsmitteln begrenzt würde“. Denn dazu müsste die These, wie bereits ausgeführt, tatsächlich aussagen, dass die Menge an Zahlungsmitteln und Forderungen insgesamt begrenzt wäre, was weder so gemeint, noch aus der Formulierung ersichtlich ist. Aber die These unterschlägt die (von mir nicht geteilte) Annahme von Raimund Brichta, dass auch in einem Vollgeldsystem steigende Forderungen auf Zahlungsmittel irgendwann zu steigenden Zahlungsmitteln führen würden, und dieser Kritikpunkt ist natürlich berechtigt.

Ergänzender Hinweis: Wenn es zwischen dem „Bestand an Zahlungsmitteln“ und dem „Bestand an Forderungen auf Zahlungsmittel“ eine Schnittmenge gibt, wäre es aus Verständnisgründen sinnvoll, die Gleichung neu aufzustellen.

Abschließend möchte ich ausdrücklich betonen, dass Raimund Brichta und ich nur in der Beurteilung der Frage nicht übereinstimmen, ob ein Vollgeldsystem mit Entzug des Geldschöpfungsprivilegs an den vorherrschenden Rahmenbedingungen des Schuldgeldsystems etwas ändern könnte. Diese Beurteilungen können auf beiden Seiten zwangsläufig nur spekulativ sein, weil schon der Status Quo des bestehenden Geldsystems ein Experiment ist, und vermutlich niemand alle Faktoren, die in diesem Zusammenhang relevant sind, lückenlos und fehlerfrei berücksichtigen kann. Umso wichtiger ist es, die sachkundige Diskussion auf diewahrheituebergeld.de oder hier auf inflationsschutzbrief.de fortzusetzen.

Neben Kommentaren können zu diesem Thema hier auch Gastbeiträge veröffentlicht werden!

Zusammenfassung:
Titel:
Raimund Brichta: Geldschöpfung, Wachstumszwang, Vollgeld
Kurzbeschreibung:
Bernhard-Albrecht Roth vs. Raimund Brichta: Gibt es auch in einem Vollgeldsystem einen Wachstumszwang durch Zins, Geldhortung und Geldvermögensbildung?
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veröffentlicht von:
Inflationsschutzbrief © 2017